Friedensnobelpreis für die Europäische Union

Von Thorbjørn Jagland
Mit freundlicher Genehmigung von European Voice (15-21 January 2004)

Meiner Meinung nach ist 2004 das ideale Jahr für die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Ich werde daher mein Recht als Mitglied des Norwegischen Parlaments wahrnehmen und dem Ausschuss für den Friedensnobelpreis einen derartigen Vorschlag übermitteln. Viele Gründe sprechen dafür. Jahrhundertelang war Europa durch Krieg, Feindseligkeiten und Nationalismus gespalten. Allein im Zeitraum 1870 bis 1945 gab es drei Kriege zwischen Deutschland und Frankreich. Während dieser Kriege wurden Millionen von Europäerinnen und Europäern getötet. In den frühen 50er Jahren des 20. Jhdts. haben Politiker mit Entschlusskraft und Visionen alte Feindschaften beiseite gelegt, und es gelang ihnen, eine neue Art der internationalen Zusammenarbeit zu schaffen.

Diese Partnerschaft war ein entscheidender Beitrag beim Bau des neuen Europa, nicht nur für Frankreich und Deutschland, sondern für ganz Westeuropa. Nun, nach Jahren der Zusammenarbeit, ist es fast unmöglich, sich einen Krieg zwischen den alten Erzfeinden vorzustellen.

Aber das ist noch nicht alles. Die ursprünglichen sechs Gründungsstaaten haben gemeinsam daran gearbeitet, frühere Diktaturen zu stabilisieren, wie wir sie in Portugal, Spanien und Griechenland gekannt haben. Demokratie ist die beste Versicherung gegen den Krieg. Demokratien ziehen selten in den Krieg und sicherlich nicht gegeneinander. Die Europäische Union trug in ungeheurem Ausmaß dazu bei, fragile Demokratien in einer kritischen Zeit zu stabilisieren, und zwar sowohl wirtschaftlich als auch politisch.

In diesem Jahr wiederholt sich die Geschichte. Die bevorstehende EU-Erweiterung ist der größte Solidaritätsakt in Europa seit dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Akt, der von Menschen in Gang gesetzt wurde, die sich an die blutige Geschichte Europas und das geteilte Europa im Kalten Krieg erinnern. Die Erweiterung wird Europa sicherer machen, und - in den Worten des großen, verstorbenen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt – es wird zusammenwachsen, was zusammengehört. Die erweiterte Union wird Länder aus dem ehemaligen Ostblock beinhalten und frühere Feinde friedlich vereinen. Und das ist der wichtigste Grund, warum ich sie für den diesjährigen Preis vorschlagen werde. Die Erweiterung ist ein entscheidender Akt der Friedensschaffung und dies auf die bestmögliche Weise.

Die Geschichte der Europäischen Union ist ein Beweis dafür, was Länder durch Zusammenarbeit leisten können. Aber die EU ist auch ein Motor für ein demokratisches und wohlhabendes Europa jenseits ihrer Grenzen. Heute spielt die Union eine entscheidende Rolle in der Sicherung von Menschenrechten und bei der Erleichterung des langen Weges zu stabiler Demokratie im ehemaligen Jugoslawien, in der ehemaligen Sowjetunion und in anderen Ländern, die einst jenseits des Eisernen Vorhangs lagen.

Die Einbindung der Türkei könnte sogar weitere Perspektiven eröffnen und dabei helfen, eine Brücke zum Mittleren Osten zu bauen. Die EU hat bereits Erfahrung im Brückenbauen und wird dies hoffentlich in naher Zukunft wieder tun. Durch die EU wurden aus früheren Gegnern Freunde und Partner. Probleme, die früher zu Konflikten und Krieg geführt haben, werden nun in Frieden und Harmonie gelöst. Die Hoffnung auf den EU-Beitritt hat die griechischen und türkischen Gemeinschaften in Zypern einander näher gebracht. Auf dieser Insel hat die UNO in den letzten vierzig Jahren Friedenssicherung geleistet.

Roma und andere Minderheiten in Mittel- und Osteuropa haben die ihnen zustehenden Menschenrechte durch die EU gesichert. Die türkische Nationalversammlung hat die Todesstrafe aufgehoben und den Status der kurdischen Minderheit verbessert – wegen des Einflusses der EU. Wenn es der Türkei gelingt, die Rechte der Kurden zu gewährleisten, könnten der Iran und Irak folgen. In anderen Worten: Die EU ist der Schlüssel.

Die EU hat meiner Auffassung nach Europa auf vielfältige Weise zum Besseren verändert. Der wichtigste Beitrag ist jedoch, dass sie Europa von einem durch Krieg und Konflikt zerstörten Kontinent zu einem friedlichen und sicheren gemacht hat.

Die Union ist ein großartiger Friedensstifter und verdient den Friedensnobelpreis 2004.

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Thorbjørn Jagland war norwegischer Premierminister und ist gegenwärtig Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im norwegischen Parlament.

Übersetzung: Margareta Stubenrauch, 5. Februar 2004