In memoriam Jiří Gruša

Jiří Gruša, geboren am 10. November 1938 in Pardubice, verstorben am 28. Oktober 2011 war ein tschechischer Schriftsteller und Diplomat. Er studierte in den 60-er Jahren Philosophie und Geschichte an der Prager Karlsuniversität. Er war eine bedeutende Figur der tschechoslowakischen Dissidentenszene und Mitunterzeichner der Charta 77. 1981 wurde ihm während eines Aufenthalts in den USA die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt. Im Exil lebte er vor allem in der Bundesrepublik Deutschland. 

 

Erst 1990 kehrte er  in die Heimat zurück. Nach der samtenen Revolution wurde Gruša zum tschechischen Botschafter in Deutschland ernannt. Von Juni bis November 1997 war er tschechischer Bildungsminister, von 1998 bis 2004 Botschafter in Österreich, dann bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien. Von 2004 bis 2009 bekleidete er die Funktion des Präsidenten des internationalen P.E.N.-Clubs. 

 

Wir Sind Europa hat Jiří Gruša als tschechischen Botschafter in Wien in einer schwierigen Zeit des österreichisch-tschechischen Verhältnisses kennengelernt. Am 5. Dezember 2001 -  in unseren Anfängen - war er ein freundlicher Gastgeber und wertvoller Diskutant bei unserer Veranstaltung Exitstrategien für eine schwierige Nachbarschaft. Möglicherweise haben unsere Song-Contest-Veranstaltungen nicht wirklich seinem intellektuellen Niveau entsprochen, aber er verstand wohl die guten Absichten und öffnete uns 2005 die Tore der Diplomatischen Akademie für unsere Veranstaltung zur Ukraine.

 

Michael Stavarič, langjähriger Sekretär von Jiří Gruša und mittlerweilen selbst ein anerkannter Schriftsteller, hat uns in memoriam Jiří Gruša den folgenden Text zukommen lassen. Er stammt aus dem Buch von Gruša und Stavarič "Als ich ein Feuilleton versprach", welches 2004 im Czernin-Verlag erschienen ist.

 

Wie sieht Ihre Vorstellung von Europa aus?

Das neue Europa wird sich durch und über den Respekt und die Achtung jedem einzelnen Individuum gegenüber definieren müssen. Der Weltmarkt und die damit verbundene Standardisierung von Herstellungsprozessen oder Rechtsvorschriften rufen den ethischen Universalismus hervor. Indes: Sich zu den Menschenrechten zu bekennen, bedeutet allerdings noch nicht, sie umzusetzen. Im Gegenteil, ihre allgemeine Akzeptanz ruft geradezu die „niedrige“ Effektivität ihrer Umsetzung hervor. Somit sind und werden Menschenrechte die Quelle für Spannungen. Universelle Menschenrechte lassen sich zudem nicht im wünschenswerten, weltweiten Ausmaß garantieren. Und ihre Anwendung wird nicht durch einen automatischen Eingriff gegen diejenigen, die sie verletzen, gesichert. Menschenrechte als Rechte, die zum Menschen ausschließlich aufgrund seines Mensch-Seins gehören, können nur unter der Voraussetzung eine Bedeutung haben, dass sie allen Menschen ohne Rücksicht auf Wirkstätte oder Herkunft zugesprochen werden.

Die Bundesrepublik Europa ist meine Vision. Vielleicht auch eine Utopie – aber eine, die uns alle angeht, weil die Menschen ein Recht auf ein friedliches Europa haben. Über eines wird man in Zukunft nicht hinweg sehen können: Europa ist nicht die Summe diverser „Ländereinzelschicksale“. Und in diesem Sinne ist Europa schon längst mehr als nur die Summe seiner einzelnen Teile. Erst das Ende der gegenwärtig betonten, national aufgefassten Staatlichkeit wird der Anfang der Universalität sein, die nicht mehr auf Herkunft baut. Die Globalisierung des Marktes zeigt zwar in diese Richtung – aber der Weltstaat ist nicht abzusehen. Wir erfahren global eher Parzellierung. Und auch dort, wo es zu Unifizierung kommt, stützt sie sich nicht immer auf unsere Auffassung vom Menschen.

Es ist wohl eine Illusion zu glauben, dass die Entstehung eines gemeinsamen Europa sich als unifizierender Prozess abspielen wird – dass also die Einheit durch eine angeordnete Vereinfachung der heutigen Komplexität erreicht werden könnte. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es sich um unendliche Puzzles aus kleinen Gebilden handeln wird, also keineswegs um ein erhabenes imperiales Gebilde, sondern um eine Art Multibaukasten, oder noch besser um eine Art feineres Nervensystem. Die im ethischen Universalismus enthaltenen Menschenrechte würden dann so etwas wie eine Anleitung bilden, wie dieser Baukasten zusammenzusetzen ist. 

Wenn man nicht in Hekatomben universeller Unifizierungen enden will, dann muss man den Weg von ewigen Wahrheiten zu zeitlichen Wahrheitsmodellen finden, von Beschwörungen der Identität zur Ehrfurcht vor Komplexität; von Phrasen der großen Vereinigung zur Demut vor kleinen Einheiten. Von der Bibel und anderen Büchern der Bücher zu sorgfältig geprüften Texten – und Kontexten. Nur so wird es etwas geben, für das es sich zu sterben und zu leben lohnt. Zum Beispiel für das Heil von Staaten, die Menschenrechte kennen und praktizieren.

 

Margareta Stubenrauch, 2. November 2011