Reden über Europa

"Reden über Europa", so lautet der Titel einer Diskussionsreihe, die das Burgtheater Wien von Jänner bis April 2008 in Kooperation mit dem Standard, IWM, Tanzquartier Wien und der Allianz Kulturstiftung veranstaltet. Die erste Matinee fand – hochkarätig besetzt - am 20. Januar 2008 zum Thema „The World Disorder and the Role of Europe“ statt.

In den ersten beiden Runden ging es vor allem um einen Blick auf die Rolle der EU. Anne-Marie SLAUGHTER, Dekanin an der Universität Princeton, bezeichnete die EU als Modell für das 21. Jahrhundert. Allerdings würden sich die Europäer selbst nicht verstehen und das Modell durch die falsche Linse, nämlich die des 20. Jahrhunderts, betrachten. Sie nannte es eine Ironie, dass eine Amerikanerin kommen müsse, um den Europäern zu sagen, wie großartig sie seien.Laut Slaughter ist die EU auch nicht wie die USA ein Staat, sondern ein Zusammenschluss verschiedener „Geschichten“, Kulturen, Sprachen, etc. Als großen Vorteil sieht sie, dass sich verschiedene Länder-Kombination zu verschiedenen Zeiten und Themen finden (z.B. zum Thema Marokko jene Länder, die sich in der Region befinden) und dabei ihre Souveränität behalten. Die EU füge sich also aus flexiblen, verschiedenen Netzwerken zusammen. Diese „collection of networks“, bei der Länder gemeinsam handeln können, aber nicht alle immer gemeinsam handeln müssen, bezeichnete sie als Modell für das 21. Jahrhundert. Slaughter sprach überzeugend und sympathisch (und stahl wohl den Herren auf der Bühne über weitere Strecken die Show) – das Bild, das sie von der EU zeichnete, gefällt mir persönlich trotzdem weitaus weniger als die Ausführungen Joschka Fischers.

Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka FISCHER widersprach der Ansicht Slaughters, da dieses Modell Europa zerstören würde. Im Gegenteil würde mehr Integration notwendig sein. Angesichts des gemeinsamen Marktes und der Finanzierung europäischer Projekte gäbe es die Frage des „gemeinsam oder nicht“ nicht mehr. Als Beispiel nannte er das aktuelle Thema der Mittelmeer-Union, die Spannungen innerhalb der EU schaffe. Jene Länder, die dagegen sind, können den befürwortenden Staaten sagen: wir haben bereits eine Politik für die Mittelmeer-Region – wenn ihr genug Geld habt, das alleine durchzuführen, dann sollten wir nochmals über die Landwirtschafts- und Regionalfonds nachdenken... Auch seien von Entwicklungen eines Nachbarlandes nicht nur die unmittelbar angrenzenden Mitgliedsstaaten betroffen. Beispielsweise würde ein Stopp der Energiezufuhr Polens durch Russland nach kurzer Zeit auch in Deutschland und anderen Ländern zum Zusammenbruch der Versorgung führen. Fischer sprach sich für den nächsten Schritt – der Implementierung gemeinsamer Interessen aus, ebenso wie für mehr Investitionen in die gemeinsame Sicherheit, die auch europäische Truppen – v.a. für Auslandseinsätze - beinhalte.

Joschka FISCHER wies auch auf die Schwierigkeit hin, nationale Souveränität aufzugeben. Dies zu verlangen sei leicht, aber in der Realität stelle es sich als schwierig dar, wichtige Dinge außerhalb des eigenen Landes entscheiden zu lassen. Wenn man die wirtschaftliche und militärische Stärke der EU-Mitgliedstaaten zusammennehme, seien sie viel stärker als Russland. Dass Russland trotzdem „Spiele spielen kann“ und die EU in Fragen wie dem Nahen Osten an den Seitenlinien sitze, liege allein am uneinigen Europa. Als große Herausforderung sieht er daher eine stärker integrierte Außen- und Sicherheitspolitik. Vielleicht brauche die EU einen Test, wie ein zu erwartendes Überschwappen der Wirtschaftskrise auf den Euro.

Ähnlich äußerte sich der tschechische Außenminister Karel SCHWARZENBERG. Die EU könne viel erreichen, wenn sie den Willen dazu hätte. Vielleicht brauche es dazu eine große internationale Krise. Derzeit sei die EU aber nicht in der Lage, den Rahmen vorzugeben, sondern agiere nur innerhalb eines vorgegebenen. Er hoffe aber, dass der russische Präsident Putin – ähnlich wie zuvor die Herren Schicklgruber und Dschugaschwili (gemeint sind Hitler und Stalin, Anm.) – eine einigende Wirkung auf Europa haben würde. Derzeit habe die EU keine klare Vision, was sie erreichen wolle. Vielleicht brauche sie dazu einen großen Schock, so Schwarzenberg.

George SOROS, der amerikanische Investmentbanker, u.a. auch Leiter des Open Society Institute und Initiator des European Council on Foreign Relations - den ich übrigens überraschend farblos fand -, meinte ebenfalls, dass die EU ihre eigenen Vorzüge nicht erkenne und die Welt „greater European leadership“ brauche. Es würde auch einer europäischen öffentlichen Meinung, europäischer Medien etc. bedürfen. Dass diese immer noch sehr national seien, sei die große Herausforderung. Ebenfalls sei es eine Herausforderung, die großen und kleinen Länder in Einklang zu bringen.

Zum Thema EU-Beitritt der Türkei meinte SCHWARZENBERG, dass dies der nächste Schritt nach einer vollen Integration der Balkan-Ländern wäre, ebenso wie die Ukraine. Im Moment sei das aber noch weit weg, da weder die EU noch die Türkei bereit wären. Aber man müsse endlich ernsthaft darüber nachdenken. Auch Joschka FISCHER meinte, dass es ein großer Fehler wäre, die Türkei zurückzuweisen, da sie eine Schlüsselrolle in der Region spiele und Russland und der Iran sie bereits mit offenen Armen erwarten. Im späteren Verlauf der Debatte kritisierte Fischer, Länder wie China, Iran, etc. einzeln zu betrachten. Sehr überzeugend fand ich seine Analyse breiterer globaler wie regionaler Zusammenhänge und den Konsequenzen für die EU. Da der Nahe Osten destabilisiert sei, der Iran derzeit hegemonial in der Region und Pakistan die große zukünftige Herausforderung, müsse die EU daher viel mehr über die Rolle der Türkei nachdenken. Er bezeichnete es als „crazy, irresponsible and stupid“, wenn die EU nicht vernünftig mit der Türkei umgehen würde.

Auch Themen wie der Iran, Asien/China und die Präsidentschaftswahlen in den USA kamen zur Sprache. Uneinig waren sich SCHWARZENBERG und SLAUGHTER darüber, ob die Politik Bushs eine drastische Veränderung darstellte, oder (wie Slaughter es sah) eine Revolution darstellte, die aber nach den kommenden Wahlen rückgängig gemacht werde. Hier wurde auch das Thema Raketenschilde angesprochen. SCHWARZENBERG wich der Frage, ob sie auch unter einer neuen US-Regierung so Zustande kommen werden, etwas aus, es ließ sich aber eine Verteidigung des Plans heraushören. FISCHER kritisierte, dass es sich hierbei um keine europäische Entscheidung gehandelt habe und nicht gut geplant war. Auf der anderen Seite könne man aber den Russen nicht erlauben, mit der EU zu spielen. Er sprach sich für ein neues internationales Kontrollsystem aus.

SLAUGHTER kam nach Ausführungen über die Unterschiede zwischen Europa bzw. den USA und Asien („tremendous confidence and tremendous problems“) zur EU zurück und meinte, dass das kollektive Handeln mit dem Vertrag von Lissabon gestärkt worden sei. Als größte Entwicklung bezeichnete sie die ambitionierten jungen Leute in den Mitgliedsstaaten, die sich selbst als Teil ihrer Nation, aber auch als Europäer sähen und für die ganz Europa als Lebensraum selbstverständlich werden würde.

FISCHER meinte abschließend, dass Europa zersplittert sei, und weltpolitisch nur ein Lächeln in anderen Staaten erhalten würde, da wir „sing in a mixed chorus“. Die EU müsse neue Ideen formulieren und jetzt gemeinsame Positionen entwickeln, um diese dem nächsten US-Präsidenten (oder der Präsidentin) vorlegen zu können. Anders als geschlossen werde die EU nicht als „Supermacht“ wahrgenommen werden können (als Beispiel erzählte er vom indischen Außenminister, bei dessen Vortrag über die zukünftigen „global players“ Europa keinerlei Rolle spielte).

Potentiell wäre die EU eine wichtige Macht, aber wenn man die Realität ansehe, sei das eher deprimierend. Er äußerte sich aber durchaus optimistisch, da alle Elemente da wären und Handlungsfähigkeit bestehe, und es nur eine Frage politischen Willens und Druckes sei. Weitere Integration sei jedenfalls notwendig, da im 21. Jahrhundert Einzelstaaten unwichtig und zu schwach werden. Man werde nur mehr fragen: „What is the power of Europe?“

Nadja Wozonig, 21. Jänner 2008