Joschka Fischer - Europa und der Nahe Osten

Vortrag am 28. März 2006, Volkshalle des Wiener Rathauses

Der ehemalige deutsche Außenminister und jetzige Abgeordnete der Grünen im deutschen Bundestag, Joschka Fischer, referierte zu Beginn der Veranstaltung des IWM und der Grünen über den ersten Teil des Titels – Europa. Er erinnerte an die zweigeteilte Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und die Chancen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges für Europa aufgetan hatten. So dachte er jedes Mal, wenn er bei endlos scheinenden Verhandlungen in Brüssel das Gefühl hatte, es nicht mehr aushalten zu können, immer wieder an die Bedeutung dieses Friedensprojektes und die Wichtigkeit des Interessensausgleichs, so Fischer.

Fischer wunderte sich, wie populär es doch ist, gegen Europa zu sein, wo wir doch alle den Erfahrungshorizont des Jugoslawien-Krieges hätten, als nach dem Ende des Kalten Krieges die Nationalismen ausgebrochen waren. „Das ziehen von Grenzen mit Blut ist also auch der europäischen Identität nicht fremd“. Fischer warnte davor, die Tür der EU beispielsweise gegenüber Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und Albanien nicht zuzumachen, da wir sonst eine schmerzhafte Lektion lernen müssten.

Dies führte Fischer in seinem Vortrag zum Thema EU-Erweiterung und den Grenzen Europas. Während im Norden, Westen und großteils auch Süden die Grenzen Europas leicht festzumachen sind, wurden sie im Osten nie definiert. Es waren immer politische, kulturelle Entscheidungen. Wir dürften nicht in ein Einflusszonen-Denken zurückfallen, betonte Fischer mehrmals. Auch müsste die Tür der EU der Ukraine, Moldawien und Weißrussland prinzipiell offen stehen. „Auch wenn es unpopulär ist: Die Erweiterung ist das unpopulärste Thema Europas, aber zugleich auch das Wichtigste!“

Fischer widmete sich dann der „größten Sorge“: dem Nahen und Mittleren Osten. Fischer fasste für diese Region mehrere Prägungen zusammen: alte regionale Konflikte, geringes Wirtschaftswachstum, hohes Bevölkerungswachstum, eine fehlende Mentalität kollektiver Sicherheit, unterschiedliche religiöse Strömungen (mit einem Hinweis darauf, dass dieses Konfliktpotenzial auch unserer Geschichte nicht fremd ist) und das junge Datum der Staaten dieses Raums.

Joschka Fischer ging dann unter dem Motto: „In einer globalisierten Welt gibt es kein ‚weit hinten’“ [in der Türkei, Zitat Goethes] auf Afghanistan und andere weltpolitische Schauplätze ein. Er hält auch nichts von der Gleichung Armut = Terror, da die Attentäter des 11. September keine armen Leute gewesen wären. Sicherheit erfordere aber Entwicklungschancen. Als Ursache für den Terror sieht Fischer eine „Modernisierungsblockade“ (in wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht).

Während Fischer beim Jugoslawien-Thema noch zugab, dass es ein sehr schmerzhafter Prozess für ihn gewesen wäre, zu erkennen, dass das Prinzip der Gewaltfreiheit nach Srebrenica nicht mehr vertretbar gewesen sei, meinte er im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Irak-Krieg, dass der Glaube, mit Gewalt etwas Gutes erreichen zu können, falsch sei. Fischers abschließender Satz zu den Bedenken gegen den Irak-Krieg: „Ich wollte, wir hätten nicht Recht gehabt.“

Fischers weltpolitische Tour d’Horizon führte dann weiter über den Iran bzw. dem Besitz von Atomwaffen in dieser Region und dem Nicht-Funktionieren einer „Rationalität der Abschreckung“ wie im Kalten Krieg bis hin zum Aufstieg der „Mega-Ökonomien“ Indien und China. Fischer betonte mehrmals, dass Europa endlich nicht mehr über die deutschen, österreichischen oder polnischen Interessen reden müsste, sondern über die gemeinsamen. Wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, gegen Europa zu sein, so Fischer.

Den Bogen vom Nahen Osten führte Fischer über die Türkei wieder zurück zur EU und deren Erweiterung. Eher 20 als 10 Jahre wird der Prozess dauern, aber am Ende steht jedenfalls eine echte Entscheidung, prognostiziert Fischer. Während er Zustimmung zu einem EU-Beitritt durchblicken ließ, meinte er, dass es legitim ist, zu sagen: wir wollen die Türkei in der EU nicht. Aber dann muss man auch die Konsequenzen wollen, so Fischer.

Fischers Fazit: Unsere Sicherheit muss endlich europäisch verstanden werden. Er beendete seinen Vortrag mit einem Aufruf - den ich nur teilen kann - an alle, sich als Europäer zu engagieren.

Mein Fazit: Gesamt betrachtet war Fischers Vortrag sicherlich konkreter und kantiger als Gerhard Schröders Wiener Rede bei der "10 Jahre Superfund Gala" knapp 3 Wochen zuvor.

Nadja Wozonig, 28. März 2006