Willkommen, Estland!

Mit einer deutlichen Mehrheit von 67 % an JA-Stimmen hat Estland nach vorläufigen Ergebnissen am 14. September 2003 über seinen EU-Beitritt abgestimmt. Das Meinungsklima in Estland zum EU-Beitritt hat sich erst in letzter Zeit positiv entwickelt. Jüngste Umfragen gingen von einer 70%igen Beteiligung und ebenso hoher Zustimmung aus.

Estland stellte am 24. November 1995 seinen EU-Beitrittsantrag. Die Verhandlungen wurden 1998 aufgenommen und im Dezember 2002 beim EU-Gipfel in Kopenhagen abgeschlossen. Das Europäische Parlament hat die Beitrittsverträge bereits am 9. April 2003 ratifiziert, die am 16. April 2003 beim EU-Gipfel in Athen feierlich unterzeichnet wurden. Nach Ratifizierung durch die nationalen Parlamente der derzeitigen Mitgliedsstaaten wird Estland am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten.

Estland ist besonders aufgeschlossen für moderne Technologien. Wenn das Land seine führende Stellung unter den Beitrittsländern bei der Anzahl an Internetanschlüssen auch knapp abgeben musste, besitzt es nach wie vor die größte Dichte an Internet Hosts bezogen auf die Bevölkerung und übertrifft dabei auch den Durchschnitt der derzeitigen 15 EU-Mitgliedsstaaten.

Die Esten und die Zeit – Ein Essay
Mit freundlicher Genehmigung des Estnischen Instituts, bei dem umfangreiche Informationen über Estland erhältlich sind; Übersetzung: Margareta Stubenrauch

Wie lange besiedeln wir schon die Ostseeküste? Ich kann mich nicht daran erinnern. Die Antwort liegt in Lennart Meris Büchern und Reden. Jedenfalls ist es ein langer Zeitraum. Viel Zeit ist vergangen, die weite Welt hat ihre Kaiser und Könige, Päpste und Sultane gewechselt, aber wir sind immer noch da....gewissenhaft und ruhig kümmern wir uns um unsere Angelegenheiten. Das Zeitkarussell dreht sich knirschend an seinem Ort, wie in Oskar Luts "Im Hinterhof". Im Slum. Letztendlich wurde Estland kürzlich vom Dichter Jaan Kaplinski und anderen mit einem Slum verglichen.

Ein Hinterhof ist ein Ort, den keine Hauptverkehrsader berührt, ein Ort fast überhaupt ohne Straßen, nur kleine windgeschützte Häuschen mit einem Blumenbeet, ein paar Tomatenpflanzen und dem Geruch von Koks-Briketts, wo die Wäsche an der Leine hängt und alte Frauen auf den Fensterbänken lehnen. Gibt es irgend jemanden, der solche Gegenden nicht kennt? Wenn ja, sollte er sich jetzt auf die Suche machen. Es gibt keinen Mangel in Tallin an solchen Orten. Es wäre unfair zu sagen, dass dort die Zeit still steht, nein sie vergeht geschäftig; Die alten Frauen werden noch älter und sterben, um von anderen ersetzt zu werden. Man kann sich auf den monatlichen Auszahlungstag der Pension freuen, gelegentlich erhält jemand eine Kokslieferung, die Wäsche trocknet, es gibt junge Welpen, die Katzen haben Kätzchen und im Herbst reifen die Äpfel. Das Zeitkarussell dreht sich fleißig, aber die großen Zeitläufe finden ihren Weg nie in diese Hinterhöfe, weil ein Damm sie aufhält. Der Fluss fließt anderswo und nur einige Wassertropfen erreichen die Gesichter der Männer, die den Koks in einen Schuppen schaufeln, und die Tropfen sofort abschütteln. "Wir haben diese Zeiten überlebt, wir werden auch andere überleben!" ist alles, was sie sagen und sie halten Wort.

So haben die Esten die Jahrhunderte überlebt. Es ist völlig undenkbar, dass ein Este die folgenden Shakespeare-Zeilen geschrieben hätte: "Die Zeit ist aus den Fugen geraten! Welch böser Fluch! Wäre ich doch geboren, um sie zurechtzurücken!" Die Esten mögen zugeben, dass die Zeiten schwer sind und darüber sogar einige Scherze machen - Ironie ist das Privileg der Beobachter - aber es würde ihnen niemals einfallen, dass sie etwas gegen die Zeit unternehmen könnten oder sollten. Jahrhundertelang konnte man sich keine größere Utopie vorstellen als Esten, die tatsächlich die Welt verändern. Esten freuen sich, wenn die Kartoffeln im Keller sind und sind nicht für das große Ganze verantwortlich.

Ist das ein schlechtes Leben? Ein schlechteres Leben als im mächtigen Fluss der Zeit zu schwimmen und aktiv an der Geschichte teilzuhaben? Die Frage ist wahrscheinlich genauso irrelevant wie darüber zu spekulieren, wer ein besseres oder anständigeres Leben führt – der Hecht oder der Igel? Der Platz des Hechts ist der Fluss, wo er durch die Wellen gleitet bis ihn sein Schicksal ereilt, wenn er durch einen unglücklichen Zufall aus dem Wasser und damit auf den Müllhaufen der Geschichte gefischt wird. Der Igel, andererseits, treibt sich auf dem trockenen Land herum und wenn er sich im Wasser wiederfindet, schwimmt die arme Kreatur um ihr Leben, um an das sichere Ufer zu kommen. Nur ein unerwartetes Ereignis kann den Igel dazu bringen, freiwillig das Wasser aufzusuchen, obwohl es vorkommt. Die Menschen kamen während der singenden Revolution auf die Straße – die Straße ist letztendlich nichts als ein städtischer Fluss – sie krochen aus ihren Hinterhöfen und Zufluchtstätten, die die Straßen säumen, wie die Ufer den Fluss. Das war ein seltener Moment und wir erinnern uns mit Verwunderung an diese Tage. Ich glaube nicht, dass sich so etwas in der nahen Zukunft wiederholen könnte. Der Igel meidet das Wasser, ein Este nimmt nicht an der Geschichte teil. Er fühlt sich genauso unwohl wie ein Theaterbesucher, der auf die Bühne gezerrt wird, und würde alles tun, um von dort weg zu kommen.

An dieser Sehnsucht ist nichts falsch. Es erscheint sicher großartig, an der Geschichte teilzunehmen, aber es ist auch gefährlich. Man weiß nie, wo der Fluß und die Zeit einen hinbringen werden. So lange die Füsse auf festem Grund stehen - oder besser - so lange man überhaupt trocken bleibt, hat man nicht viel zu befürchten. Letzendlich waren die meisten Begegnungen zwischen den Esten und der Geschichte verhängnisvoll und brachten die Menschen nach Sibirien oder ins Grab. Kein Wunder, dass sie die kleine Welt mehr schätzen als die große. Da kann man mitmachen, sich ein Auto und ein zweigeschoßiges Haus erarbeiten, Urlaub in einem warmen Land und Kartoffeln und eingelegte Gurken für den ganzen Winter. Das ist etwas Verläßliches und Bleibendes, es wird überleben, selbst wenn eine Generation von Sisyphossen ihren Vorfahren folgt und neue Steinroller die endlose Arbeit aufgenommen haben werden. Ein Pelzmantel oder ein Paar Fäustlinge, geerbt von den Großeltern, geschätzt von den folgenden Generationen, nicht zu reden von einem Haus oder Feldern.

Weitere Informationen:

Offizielle Webseite der Republik Estland

Länderprofil

Margareta Stubenrauch, 15. September 2003, aktualisiert am 27. August 2010