Europas Babylon - Welche Sprache(n) spricht Europa?
Zu diesem Thema organisierte Wir Sind Europa am 20. Juni 2001 ein
Podiumsgespräch in Wien. Unter der Leitung von Univ.-Prof. Ruth Wodak diskutierten Dipl.Ing. Dr. Margareta Stubenrauch, Univ.-Prof. Heinz
Pohl (Sprachwissenschafter, Universität Klagenfurt), Univ.-Prof. Rudolf De Cillia (Sprachwissenschafter, Universität Wien) und Univ.-Prof. Imbi Sooman (Institute für Germanistik und
Finno-Ugristik, Österreich-Estnische Gesellschaft). Bei der Diskussion waren nicht nur etwa 60 ZuhörerInnen anwesend, sondern auch ein Kamerateam der ZIB 1 des ORF. Ein entsprechender Beitrag
wurde am folgenden Tag gesendet.
Europäisches Babylon?
Derzeit hat die Europäische Union 11 Amtssprachen, in die alle Rechtsakte und andere wesentliche Dokumente übersetzt werden. Nach der bevorstehenden Erweiterung der
Europäischen Union wird sich die Zahl der Amtssprachen annähernd verdoppeln, wenn die bisherige Sprachenpolitik fortgesetzt wird. Allein der Übersetzungsdienst der Europäischen Kommission
übersetzt 1 Million Seiten pro Jahr, etwa 60.000 Dolmetschtage fallen jährlich im Europäischen Parlament an. Die Kosten dafür betragen zwar nur 0,75% des EU-Haushaltes, belaufen sich in realen
Zahlen jedoch auf etwa 9 Milliarden Schilling pro Jahr.
Alle DiskutantInnen waren sich darüber einig, dass der Zugang der EU-BürgerInnen zu den Dokumenten der Gemeinschaft in ihrer Staatssprache erhalten werden muss.
Unterschiedliche Ansichten gab es jedoch zum Dolmetschen bei Sitzungen. Dies betrifft meist nur die europäischen Eliten, die ohnehin mehrere Sprachen sprechen und daher der Simultanübersetzung
gar nicht bedürfen. Darüber hinaus sind inhaltliche, oft komplexe, Übersetzungen nur schwer möglich, und führen trotz der guten Arbeit der DolmetscherInnen mitunter zu Missverständnissen. Eine
Reduktion oder gar einheitliche Arbeitssprache könnte so durchaus zu einer Verwaltungsvereinfachung führen, ohne die BürgerInnen in ihren (Sprach-)Rechten einzuschränken.
Englisch als lingua franca?
Sehr bald kristallisierte sich die Frage heraus, ob Englisch bereits zur lingua franca geworden ist. Alle TeilnehmerInnen waren sich über die englische Sprachdominanz einig,
wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Der Vormarsch des Englischen wurde von den DiskutantInnen einerseits als unabwendbares Faktum, andererseits als gleichmachende Bedrohung interpretiert,
die mittel- und langfristig zu einem Sprachverlust in Europa führen wird.
Sprache als Merkmal der Identität
Dem gegenüber wurde auch stark die Ansicht vertreten, dass Sprache ein wesentliches Merkmal der Identität ist und dass die Beschränkung auf eine oder mehrer Amtssprachen
mittelfristig zu einem irreparablen Sprach- und Kulturverlust in Europa führen würde.
Derzeit betreibt die EU außerhalb der Übersetzung in die 11 Amtssprachen keine aktive Sprachenpolitik. Dies liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, und der daraus
folgenden unterschiedlichen Regelungen für die in ihrem Staatsgebiet gesprochenen Minderheitensprachen. Auch dort besteht die massive Gefahr, dass Sprachen verloren gehen. Nicht nur nordische
Sprachen erleben sich als Minderheitssprachen, sondern es existieren über die 11 Amtssprachen hinaus noch ein Dutzend "große" und unzählige kleine Minderheitensprachen (z.B. etwa 7,5 Millionen
Katalanen), die sich alle gefährdet sehen.
Vielfach wurde auf die Gefahr hingewiesen, dass eine Leitsprache fatale Folgen für die anderen Sprachen hätte, da mit der Zeit nichts mehr in den verschiedenen Sprachen
veröffentlicht werden würde. Bereits jetzt zeige sich, dass insbesondere wissenschaftliche Texte nur noch auf englisch publiziert werden. "Wenn die Wirtschaft nicht mitspielt, dann sterben kleine
Sprachen aus", so eine der TeilnehmerInnen.
Problemlösung Esperanto?
Die AnhängerInnen von Esperanto boten Esperanto als leicht erlernbare Sprache zur Problemlösung an. Der Durchsetzung von Esperanto scheint wohl der künstliche Charakter
dieser Sprache im Weg zu stehen.
Mehr Fremdsprachenunterricht
Allgemein wurde auch bedauert, dass Fremdsprachenunterricht fast überall in Europa nur das Erlernen von Englisch und/oder Französisch bedeutet, den Sprachen der jeweiligen
Nachbarstaaten aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Beispiele dafür sind der Nordische Rat, in dem z.b. Schweden und Finnen miteinander auf Englisch kommunizieren oder das geringe
Interesse gerade in Österreich für Tschechisch, Ungarisch oder Slowenisch.
Abschließend drückten alle DiskutantInnen den Bedarf nach einer verstärkten Mehrsprachigkeit und dem verstärkten Erlernen von Sprachen aus.
Margareta Stubenrauch und Nadja Wozonig, 27. Juni 2001