Europa - Der Jüdische Beitrag
Wir Sind Europa und der Republikanische Club Neues Österreich luden am 19.11. 2002 zur Diskussion "Europa -
Der Jüdische Beitrag". Als Einleitung ins Thema las die Soziolinguistin Verena Krausneker ihren Beitrag zum von Barbara Coudenhove-Kalergi herausgegebenen Buch "Meine Wurzeln sind anderswo.
Österreichische Identitäten". Sie bot einen hochinteressanten und allgemein gelobten Einblick in ihre Lebensgeschichte bzw. die ihrer Familie, und machte anhand dieser Beispiele (z.B. der
jüdischen Verwandten auf der einen Seite und der damals den Nazis zugetanen Verwandten auf der anderen Seite) die Vielschichtigkeit einer "Wiener Identität" deutlich.
Ronald J. Pohoryles, vom Interdisziplinären Institut für Vergleichende Sozialwissenschaften und Mitglied von Wir Sind Europa, erläuterte zuerst historische Aspekte und Einflüsse von Juden auf die Moderne (Entwicklung des Sozialismus, Psychoanalyse,
Amerikanisierung, Globalisierung), brachte dann aber auch persönliches ein, indem er meinte, er sei 1952 geboren - "der beste Zeitpunkt, als Jude geboren zu sein", da man sich in einer Demokratie
wehren könne. Als Hauptgefahr für das europäische Judentum führte er Schätzungen an, dass im Jahr 2020 die größte jüdische Gemeinde in Israel sein werde, nicht mehr in England, Frankreich oder
Deutschland.
Einig waren sich die Diskutanten darin, dass man eigentlich nicht von einem "jüdischen Beitrag" zu Europa sprechen könne, sondern der Beitrag "war ihr Dasein", so Eleonore
Lappin vom Institut für die Geschichte der Juden in Österreich. Auch sei, so Pohoryles, der Beitrag oft nicht freiwillig, sondern abgepresst gewesen, so beispielsweise in der massiv
eingeschränkten Berufswahl.
Eleonore Lappin zeigte anhand von literarischen Beispielen die Sicht jüdischer Schriftsteller auf Europa und wies auf den "melting pot" Wien hin, wie er vor dem Ersten
Weltkrieg existierte. Nachher sei das "Österreichertum" der Juden, die sich zumeist assimilieren wollten (und viele auf ihre Tapferkeitsmedaillen für Österreich aus dem Ersten Weltkrieg stolz
waren), plötzlich nicht mehr anerkannt worden.
Der Politikwissenschafter und Nahost-Experte John Bunzl unterstrich den bereits zuvor von Ronald J. Pohoryles angemerkten Punkt, dass das Thema der Diskussion nicht ohne
Antisemitismus und den Nahost-Konflikt auskommen könne. Pohoryles merkte allerdings an, dass es auch einen autonomen Antisemitismus, ohne Einfluss durch den Nahost-Konflikt, gebe. Bunzl verwies
vor allem auf die Gefahr, dass jede Israel-Kritik den Stempel des Antisemitismus aufgedrückt bekomme. Auch hat die "europäische Tradition des Antisemitismus" nun ein bisher unbekanntes Kapitel
aufgeschlagen, nämlich die Häufung von antisemitischen Akten in Europa durch Muslime, die stark mit dem Nahost-Konflikt zusammenhänge. Allerdings dürfte man auch die vermehrte Islamophobie nicht
übersehen, die bereits stärker als der Antisemitismus sei, so Bunzl. Jedenfalls warnte Bunzl vor einem inflationären Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs, da dieser zu einer Verharmlosung führe.
Bunzl verwies darauf, dass nicht alle Europavorstellungen für Juden akzeptabel seien, die EU allerdings den Holocaust als Gründungsereignis ansehe.
Die - wie die Podiumsdiskussion von Historiker Gerhard Botz geleitete - Publikumsdiskussion spannte dann den Bogen von der Frage, ob Juden aus Osteuropa nun vermehrt
eingeladen werden sollten, nach Österreich zu emigrieren bis hin zur Frage von multiplen Identitäten. Verena Krausneker erzählte hier das eindrückliche Beispiel, dass ihre jüdische Identität von
ihrer jüdischen Großmutter komme, die sich selbst allerdings nicht als jüdisch sah.
Volker Kier, der zu Beginn als Mitglied von Wir Sind Europa als auch des
Republikanischen Clubs begrüßt hatte, regte an, dass die angesprochene Unfreiwilligkeit des jüdischen Beitrags zu Europa in eine Freiwilligkeit geführt werden müsse.
Nadja Wozonig, 23. November 2002